Anmerkungen zu Hölderlin - anlässlich des manía-Projektes (2008)
Ende des 18. Jahrhunderts suchte Hölderlin (1770 - 1843) nach einem Stoff für ein Drama. Letztlich kam er auf den alten Sizilier Empedokles, der seinem Leben bewusst ein Ende setzte, indem er sich in den Ätna stürzte. Der antike Philosoph und sein Schicksal interessierte Hölderlin aber nicht an für sich; er glaubte vielmehr an diesem „fremden analogischen Stoff“ zeigen können, was in seiner Zeit für eine „gänzliche Umkehr“ der Verhältnisse erforderlich war. In ähnlicher Weise benutzen wir in unserem manía-Projekt das Leben und die Dichtung Hölderlins als Stoff. Wir wollen an diesem zeigen, was in unserer Zeit Not tut, damit Menschen in ihre wirkliche (Liebes)kraft kommen. Und eben deshalb gehen wir zwar von historisch-biografischen Fakten, literaturwissenschaftlichen Deutungen und vor allem von Hölderlins Dichtung selbst aus und lassen uns davon zu szenischen Bildwelten inspirieren – letztlich aber nehmen wir uns die Freiheit, mit all dem so umzugehen, damit das, was heute virulent ist und ansteht, erfahrbar wird.
Im manía-Projekt geht es um verschiedene, jedoch miteinander zusammenhängende Aspekte: zunächst einmal um den Wahnsinn (manía) mit seinen Abgründen und Potentialen. Auf dieser Folie nehmen wir Hölderlins brieflichen Aufruf an seinen Halbbruder „dass wir Männer werden“ ernst und suchen nach Lösungsansätzen. Und eben deshalb erforschen wir auch Hölderlins Beziehungen zu den Frauen, insbesondere zu seiner Mutter und zu seiner Geliebten Susette Gontard, die er in seinem Briefroman „Hyperion“ und in zahlreichen Gedichten zur Idealfrau („Diotima“) stilisierte. Weiterhin fragen wir uns, inwiefern das, was Hölderlin als das Tragische seiner Zeit erkannt hat, auch heute noch gilt – nämlich: „dass wir ganz stille in einem Behälter eingepackt vom Reiche der Lebendigen hinweggehn“. Und schließlich: Wie ist Hölderlins Hoffnung auf eine „künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird“ einzuschätzen mitsamt seiner Vision einer in der Liebe sich verbindenden Menschheit?
„manía“ in der griechischen Antike
„manía“ ist ein altgriechischer Begriff und meinte zunächst bei Homer nichts anderes als „rasen“, „unkontrolliert toben“ und „von Sinnen zu sein“. Diese affektiv-chaotischen Zustände der homerischen Helden wurden meist hervorgerufen durch tiefe Kränkungen, Verletzungen, überhaupt durch Extremsituationen in Krieg und Liebe. Erst mit den Tragikern im fünften Jahrhundert kam die Frage nach dem Krankhaften dieser Zustände ins Spiel. Und interessanterweise zugleich damit wurde danach gefragt, inwiefern die Götter – allen voran Dionysos - damit etwas zu tun hätten – genauer: ob und in welchen Fällen sie ihren menschlichen Schützlingen die manía zur Zerstörung oder Erhebung schickten. Diese Frage beantwortete Platon dann so, dass er philosophisch zwei Formen der manía unterschied: den durch menschliche Krankheit und den durch göttliche Gabe verursachten Wahnsinn. Und vom „göttlichen Wahnsinn“ behauptete Platon, dass durch ihn den Menschen die bedeutendsten Güter zuteil würden: In ihm ereigne sich nicht nur alle große Kunst – wie auch alle Einweihung und Inspiration - , sondern auch die eigentliche Liebe (Eros). Platons Theorie des Wahnsinns prägte die abendländische Kultur bis zur Zeit Hölderlins. Vor allem die Renaissance griff diese Gedanken auf und sprach nun von „furor“: „eroico furore“ und „furor poeticus“ galten als ekstatische Dynamiken der Inspiration und Begeisterung, in denen der Mensch sich der göttlichen Schönheit nähert.
Hölderlins manía-Konzept
Für unser Projekt lag es deshalb nahe, den altgriechischen Begriff für Wahnsinn zu verwenden, weil sich Hölderlin von seiner Zeit in der Nürtinger Lateinschule bis zu seinem Tod im Tübinger Turm mit der antiken Tradition auseinandergesetzt hat. Hatte er diese zunächst – vor allem das geistige und politische Leben in der athenischen Polis – als ein Ideal gesehen, dem es unter modernen Bedingungen nachzustreben gelte, so erkannte er nach und nach auch ihre schillernde Ungeheuerlichkeit, die sich im „heiligem Zorn“ und eben auch in der manía ausdrückte. Hölderlin kannte zwar auch die beiden von Platon beschriebenen Formen der manía – doch von einer feinsäuberlichen philosophischen Trennung hielt er nichts: Bei ihm schlagen gerade in der Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen blinder Zorn und göttliches Ergriffensein wild ineinander. Diese Begegnungen haben nichts gemein mit sentimentalen Erbauungs- und Erweckungserlebnissen, schon gar nichts mit dem esoterischen Gerede vom „Jetzt“; sie sind vielmehr Momente der höchsten Ungeheuerlichkeit, der Blitzschlag „absoluter Gegenwart“, bei der der Mensch sich an nichts Gewohntes, aber auch nichts Erhofftes oder Erträumtes mehr halten kann – „eine gänzliche Umkehr“ ereignet sich, bei der ungewiss ist, ob sie zu etwas wirklich Neuem führt oder in den Untergang, die „Wildnis“. Auf der Strecke bleibt in Hölderlins Werken dabei auf jeden Fall das Individuum, das sich dieser Begegnung stellt.
Hölderlin im Turm
Auf der Strecke blieb auch der historische Hölderlin: Er verbrachte die zweite Hälfte seines Lebens bis zu seinem Tod, also von 1807 bis 1843, entmündigt beim Schreinermeister Zimmer im Turm über dem Neckar - die letzten Jahre dann gepflegt von dessen Tochter Charlotte. Dort spielt auch unser Stück. Ob Hölderlin nun tatsächlich verrückt war oder nicht, interessiert uns weniger. Sicher ist nur: Er war auf Pflege angewiesen, seine große Liebe war gestorben (Susette Gontard starb 1802 wohl auch an den Folgen der Trennung von ihm), sein poetisches Schreiben, das er nach wie vor fast manisch betrieb, hatte nicht mehr die Kraft der früheren Zeit und – damit einhergehend – seine geschichtliche Hoffnung auf eine „gänzliche Umkehr“ war erloschen. Gemessen zumindest an seinen früheren Ansprüchen (vielleicht hatte er ja im Turm andere) kann man ihn somit als einen Gescheiterten auf der ganzen Linie sehen. Bei diesem Befund klammern wir die Frage ein, wer daran Schuld hat – er selbst, die Mutter, die gesellschaftlichen Verhältnisse oder die Gene. Wir interessieren uns für die Potentiale, die in dem Hölderlin-Stoff für unsere Zeit liegen. Wir pathologisieren Hölderlin nicht, wir mystifizieren ihn aber auch nicht, wir nehmen ihn mit seinen Ansprüchen und Hoffnungen einfach nur ernst und fragen mit ihm weiter. So gehen wir also vom (gescheiterten) Hölderlin im Turm aus und zeigen, wie er – freundlich aufgenommen - bei den literarisch interessierten Zimmers im Turm lebt – und wie assoziative Bildwelten seiner früheren Dichtung vermengt mit biografischen Einsprengseln in ihm auftauchen und ihn zunehmend umtreiben.
Therapeutisches Schreiben – und dann?
Hölderlin prägte selbst einmal für seine schriftstellerische Arbeit den Begriff der „idealischen Auflösung“; er meint damit ein dichterisch gestaltetes Erinnern, durch welches ein geschichtlich-revolutionärer Umbruch nachträglich in ein übergreifendes sinnhaftes Geschehen eingebunden werden soll. Etwas Ähnliches – nur mehr auf individualpsychologischer Ebene – unternimmt Hölderlin schon im „Hyperion“: In diesem stellt der Erzähler Hyperion – erinnernd und Briefe schreibend – sich seinen biografischen Traumata, also dem Scheitern seiner kriegerischen Befreiungstaten und noch mehr dem von ihm mitverschuldeten Tod seiner Geliebten Diotima. Im Laufe des Schreibprozesses findet der Erzähler in einer Art kreativer Selbsttherapie zu einer souveränen, gereiften Lebenshaltung, in welcher er sich als Dichter und Volkserzieher erkennt. Ein ähnliches Setting haben wir im manía-Projekt dramaturgisch umgesetzt: Unser Hölderlin im Turm wird an seine dichterische und biografische Vergangenheit erinnert – erst wird er davon unwillentlich überwältigt, mit der Zeit greift er in diesen Prozess mehr und mehr aktiv ein… Am Ende steht allerdings die Frage, wie weit Hölderlins poetisches Konzept der „idealischen Auflösung“ trägt und ob nicht letztlich etwas ganz Anderes geschehen muss, damit (s)ein Trauma überwunden werden kann.
Hölderlin und die Frauen
Letztere Frage stellen wir vor allem, indem wir die Mann-Frau-Dynamik (bei Hölderlin) ins Zentrum rücken. Hölderlins Leben war vor allem durch Frauen geprägt (sein leiblicher Vater starb als er zwei, sein Nürtinger Stiefvater als er neun Jahre alt war). Diese Frauen waren allen voran: seine Mutter, Johanna Gok, und seine Geliebte Susette Gontard, eine Frankfurter Bankiersgattin und dreifache Mutter. Die Liebe zu Susette entspann sich, als Hölderlin Anfang 1796 Hauslehrer bei den Gontards wurde. Fast zwei Jahre lebten die beiden unter einem Dach; einige Monate waren sie mit den Kindern und einigen anderen Verwandten und Bediensteten, aber ohne Susettes Ehemann Jakob, auf einer kriegsbedingten Reise – dies war ihre glücklichste Zeit. Als im September 1798 das Verhältnis aufflog, verließ Hölderlin in Affekt das Haus und zog zu seinem Freund Sinclair ins nahe Bad Homburg. Fortan trafen die Liebenden sich höchstens ein Mal im Monat heimlich in Susettes Garten und tauschten Briefe.
Warum die beiden letztlich nicht zusammenkamen, hatte sicher zunächst ganz handfeste Gründe: Susette wagte – im Unterschied zu anderen berühmten Frauen ihrer Zeit wie die selbstbewusste Caroline Schlegel – nicht, für die große Liebe ihre Familie zu verlassen. Das hatte wohl auch materielle Gründe: Wovon sollten sie leben? Hölderlin hat nach der Aufgabe der Hauslehrerstelle nur geringe Ersparnisse und er benötigte einen Vorschuss aus dem Erbe seines Vaters, den ihm seine Mutter „großzügig“ gewährte. Alle Hoffungen Hölderlins eine selbstständige materielle Existenz in dieser Zeit aufzubauen zerschlugen sich. Dabei war Hölderlin durch sein Erbe eigentlich ein reicher Mann. Doch seine Mutter hielt eisern ihre Hände über das Geld und knüpfte die Freigabe des Vermögens ihr Leben lang an eine „kleine“ Bedingung: Hölderlin musste Pfarrer werden. Dem verweigerte sich Hölderlin vom Anfang seiner Priesterausbildung an. Dieser Konflikt zwischen Mutter und Sohn durchzieht die gesamte dichterisch produktive Zeit Hölderlins - bis zu seiner Zwangseinweisung ins Tübinger Spital im Jahr 1806. Festgehalten werden kann: Hölderlin schaffte es nicht, sich gegen seine Mutter durchzusetzen, selbst dann, als es um seine große Liebe ging. Für uns ist all dies zugleich Ausdruck tieferer Konflikte, die Hölderlin mit „seinen“ beiden Frauen hatte. In ihnen treten elementare Verstrickungen der Mann-Frau-Mutter-Beziehung hervor, die für uns auch heute noch gültig sind und die wir versucht haben, szenisch auf den Punkt zu bringen.
Eine neue Diotima?
Auffällig an Hölderlins Werkgeschichte ist, dass nach dem „Hyperion“ keine erotische Mann-Frau-Beziehung mehr eine zentrale, sprich wirklich tragische Rolle spielt. In den auf die Trennung von Susette reagierenden Gedichten, spricht das lyrische Ich seine unermessliche Trauer über den Verlust der Diotima aus und es sucht am Ende Trost in seiner neuen Rolle als Dichter, der auch in die „andere“ Welt hinüberzuschauen weiß. In seinem dramatischen Empedokles-Projekt konfrontiert Hölderlin seinen Helden zwar mit den politisch und religiös Herrschenden, aber nicht mehr mit einer ebenbürtigen Frau. Empedokles sucht stattdessen seine Herausforderung letztlich in der tragischen Begegnung mit dem Göttlichen bzw. Unendlichen und springt in den Ätna. In einer seiner letzten Arbeiten vor der Turm-Zeit, seiner Übersetzung von Sophokles „Antigone“, steht die Heldin im Konflikt zwischen den Gesetzen des Staates und denen der Unterweltgötter. Antigones Beziehung zu ihrem Geliebten verschärft zwar die Tragik des Geschehens, macht sie aber nicht aus.
Wie steht es nun aber mit der Liebesbeziehung im „Hyperion“? Diotima ist ihrem Geliebten überlegen und unterlegen zugleich: Sie ist ihm überlegen, weil in ihr noch eine unversehrte Seligkeit lebt, die Hyperion teilweise zwanghaft in den Bann zieht. Sie ist diesem unterlegen, weil Hyperions irrender Geist auf sie zerstörerisch wirkt. Sie hat deshalb letztlich auch keine Macht über ihn, kann ihn nicht von seinen fatalen kriegerischen Taten abhalten und ist doch zugleich von seinen destruktiven Tendenzen so affiziert, dass sie letztlich daran zugrunde geht. Anders als Hyperion entwickelt sich Diotima deshalb auch durch die Liebesbeziehung nicht wirklich weiter; sie versteht zwar, sich mehr und mehr verbal zu artikulieren, letztlich stirbt sie aber und findet lediglich Trost in ihrer seligen Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit ihm in einer „anderen“ Welt. Hyperion dagegen entwickelt sich durch diese Liebesbeziehung und letztlich gerade durch ihr tragisches Ende zumindest teilweise weiter: Indem er sich nach einiger Zeit – wie oben schon beschrieben – diesem ungeheuren Schock schreibend stellt, gewinnt er ein höheres Bewusstsein. In der Erinnerung an die dunkelste Nacht seines Lebens erkennt er, dass das Leiden nicht nur zum Menschen, sondern auch zum Leben der Gottheit, also der „heiligen Natur“ notwendig gehört. Fortan prägt ihn zwar eine (über)stoische Ruhe, die ihn zum Dichter befähigt. Auch zeigt er sich fortan als satirisch-bissiger Kritiker der bestehenden Verhältnisse und erweist sich so zudem als aktiver Volkserzieher. Doch eine neue Liebesbeziehung zu einer ebenbürtigen Partnerin kommt in dem Roman nicht mehr in Blick – außer der erhofften Vereinigung mit Diotima in der „anderen“ Welt.
An eine erfüllende erotische Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau auf Augenhöhe im Hier und Jetzt scheint Hölderlin am Ende des „Hyperion“ und auch in den nachfolgenden Dichtungen nicht mehr zu glauben. Der Tod der Diotima ist für Hölderlin letztlich nur ein scheinbar notwendiges Opfer für die Selbstverwirklichung des Mannes, der zum Dichter und Volkserzieher berufen ist. Da stellt sich natürlich – ganz am Ende – die Frage, ob Hölderlin das Potential der Diotima-Gestalt, die bei Platon ja noch eine souveräne Liebeslehrerin war, wirklich ausgeschöpft hat. Mit Hölderlins Diotima-Figur ist jedenfalls für uns das letzte Wort in dieser Frage nicht gesprochen. Wir fühlen uns vielmehr gefordert, nach einem ganz anderen Weg zu suchen, wie eine Frau einen Mann dabei unterstützen kann, zu einem (selbstständigen und liebenden) Mann zu werden – und sei dieser auch der großartigste Dichter.
Essay
Spielen in der Höhle des Löwen
Beim Schreiben der Texte für die Homepage ist mir immer öfter das Wort „Spiel“ in den Sinn gekommen. Nicht zufällig findet sich in diesen gleich zwei Mal Schillers Einsicht „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Tatsächlich ist es so – egal ob im szenischen oder im Gedankenspiel - dass wir uns im Spielen frei in unserem Möglichkeitshorizont bewegen. Wir nehmen das, was uns vorgegeben ist, nicht einfach nur hin, sondern gestalten, verwandeln es gar. Und wir entdecken neue Möglichkeiten, die wir davor nur dunkel geahnt haben. Im Spiel stehen uns die Potenziale auf einmal deutlich vor Augen.
Ich spiele gern.
Ich habe eine siebenjährige Tochter. Sie wohnt weit entfernt von mir – in Berlin. Doch wenn wir uns sehen, tauchen wir sogleich in eine Welt des Spiels ein – mit Schleich-Pferden, Barbie-Puppen, mit dem, was wir gerade finden, oder eben nur mit uns selbst. Übrigens muss ich immer die Menschen spielen und dauernd sprechen, und sie ist immer das Pferdlein, der Wolf, der Seelöwe usw. Seis drum: In ihr finde ich meine Meisterin. Sie ist unermüdlich und treibt mich von Spiel zu Spiel. Wenn ich mitunter eine Pause brauche (und da merke ich mein Alter), muss ich selbst dies als Spiel inszenieren: Ich gebe ihr meine Uhr und sage ihr, dass sie genau auf den Zeiger (deshalb hab ich keine Digitaluhr) Acht geben müsse, sonst käme die Zeit nicht voran und das nächste Spiel könne dann nicht anfangen.
In meinen Seminaren spiele ich aber auch häufig mit älteren Menschen. Dazu fällt mir eine Aussage des Aachener Komikers Globo ein: „Wir hören nicht auf zu spielen, weil wir alt werden, sondern wir werden alt, weil wir aufhören zu spielen.“ Tatsächlich ist ja so, dass, je älter wir werden, die Vergangenheit immer mehr Gewicht bekommt. Unsere Vorgriffe auf die Zukunft werden kürzer oder der Raum der Erinnerungen wird immer größer. Diesem ehernen Lebensgesetz können wir ein Schnippchen schlagen. Wie? Indem wir spielen. Im Spiel schaffen wir ständig neue Welten. Und vor allem sind wir, wenn wir es recht tun, immer im Jetzt – selbst dann, wenn wir unsere Erinnerungen nachspielen. Das ist selbst dann eine große Freude, wenn es nicht ganz die Erfüllung bringt, mit der Marcel Proust in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ seinen Helden beglückt.
Aber das ist doch bloß Spiel! Im Spiel können wir für Momente dem Alltag entfliehen; nachher holt er uns gnadenlos ein! Das kann sein, muss aber nicht. Nämlich dann nicht, wenn wir das, was wir im geschützten Raum des Spiels erleben, Ernst nehmen und es wirklich in unser Leben bringen. Mir fallen ein paar Liedzeilen aus Kindertagen ein: „Nehmt Abschied Brüder, schließt den Kreis, das Leben ist ein Spiel, und wer es recht zu spielen weiß, der gelangt ans rechte Ziel.“ Fast immer, wenn ich früher dieses Lied singen musste (Singen war überhaupt eine Tortur für mich damals), musste ich innerlich weinen – nicht so sehr wegen der Abschiedsstimmung, die darin anklingt. Vielmehr fand ich es gemein und fühlte mich zugleich ohnmächtig, dass jemand das Leben, das so viel Leid und Schmerz über mich brachte, als ein Spiel betrachtete. Das ist gemein, schrie ich innerlich auf. Sie müssen wissen: ich hatte eine überaus herausfordernde Kindheit (wer hat das nicht?). Alles rebellierte innerlich dagegen.
Heute ist es anders: Durch das Spielen – und hier muss ich einräumen, dass es eindeutig mehr das Theater- als das philosophische Spiel war – befreite ich mich von einem großen Teil dieses Leidens. Seitdem weiß ich, Spiel und Ernst schließen sich nicht aus: Das Gegenteil des Spiels ist nicht der Ernst, sondern die Zwanghaftigkeit; und das Gegenteil des Ernstes ist nicht das Spiel, sondern die Leichtfertigkeit. Spiel und Ernst dagegen bedingen sich einander geradezu.
Was ist nun aber ein ernstes Spiel?
In meinem Seminar „Der Tod als Ansporn im Leben“ (ein Motiv des dänischen Philosophen, Kirchenkritikers und Urchristen Sören Kierkegaard) führe ich die Teilnehmer (es sind größtenteils Frauen) dahin, sich möglichst direkt und konkret vorzustellen, dass sie nur noch drei Monate zu leben hätten, und am Ende – in einer Meditation – sogar, dass sie gerade im Sterben lägen. Ein Spiel gewiss – doch eben ein ernstes. Denn der Gedanke an den eigenen Tod bündelt wie keine andere Vorstellung die Sicht auf sich selbst: Was will ich wem noch unbedingt mitteilen, welcher Konflikt duldet im Angesicht des Todes keinen Aufschub mehr, was will ich wirklich noch in mein Leben lassen, damit ich in Frieden (und so mit weniger Angst) sterben kann. Mit Hesses Worten (den ich sonst nicht so mag): „Werde wesentlich!“ Wenn ich die Einsichten, die aus dieser Übung - oder eben aus diesem Spiel – auf mich zukommen, Ernst nehme, dann kann mein Leben eine neue Wendung nehmen. Und zwar nicht erst dann, wenn mich eine tödliche Krankheit ereilt, sondern JETZT, da ich noch alles in die Tat umsetzen kann. Mir kommt dazu ein Satz meines philosophischen Lehrers Michael Theunissen in den Sinn: "Der im Ernst gedachte Gedanke an den Tod ermöglicht erst wahres, wirklich gelebtes und gerichtetes Leben."
Ein bisschen anders liegt der Fall im Theaterspiel: Wenn ich in eine neue Rolle schlüpfe, so mache ich mich von dem Lebensmuster, nach dem ich bisher gelebt habe, ein Stück weit los – ein Muster übrigens, das meist nicht viel mit dem zu tun hat, wie ich gemeint bin (von wem?). Zugleich entdecke ich Facetten in mir, die bisher verborgen oder gar verschüttet waren. Denn eine Rolle kann ich nur dann glaubhaft spielen, wenn ich das Potenzial, das in mir selbst liegt, zum Leben erwecke. Selbst wenn ich eine Rolle spiele, die nicht positiv im Leben steht (zum Beispiel eine eifersüchtige Frau – auch in meinen Theaterkursen sind vor allem Frauen), kann mir das helfen, mich zu verwandeln. Denn indem ich die Eifersucht im Spiel annehme, erhebe ich mich zugleich über diese und lerne damit souverän zu sein.
Noch weiter gedacht: Ich entdecke, dass ich kein vom Weltdrama abgeschlossenes Wesen bin: Ich bin eine Figur im großen Weltspiel - zum Beispiel im allgegenwärtigen Krieg der Geschlechter. Doch indem ich eine Rolle bewusst annehme und entwickle – und sei es die der eifersüchtigen Frau oder die des schweigenden Mannes – bin ich nicht nur Marionette, sondern zugleich Akteur (Schauspieler heißt auf Englisch ganz sinnig „actor“), der seinem Schicksal nicht ausgeliefert ist, sondern es gestalten, ja sogar wenden kann. Und so kann das Theaterspiel dazu beitragen, die Tragödien in und um uns zu lösen. Dies ist eine wesentliche Absicht des Projekts „theater existenziell“.
So bleibt nur noch eine Frage: Warum habe ich mein Projekt gerade in Nürtingen gestartet?
Nicht-Nürtinger müssen wissen, dass es hier ein großes Unternehmen gibt, das Bohrmaschinen, Schwingschleifer und so herstellt. Auf den riesigen, grünen LKWs dieser Firma prangt der Slogan „Work, don’t play“. Einen solchen habe ich in Berlin, wo ich lange gelebt habe, gesehen. Und da war mir klar: Du musst da hin, wo diese Laster herkommen! Ja, ich habe mich in die Höhle des Löwen begeben, um hier den Kampf für das Spielen ein für alle Mal und weltweit zu entscheiden! Wenn die Nürtinger das Spielen lernen, dann kann es auch die ganze Welt! Das war und ist meine feste Überzeugung, die auch dramaturgisch ganz reizvoll ist (ich bin so etwas wie der oder die Momo des Spiels).
Der Erfolg meines Projekts macht mich leise optimistisch. Doch einschränkend möchte ich sagen, dass sich für mich Arbeiten und Spielen nicht ausschließen – hier gilt dasselbe wie bei Ernst und Spiel. Mir geht es auch um ein Spielen, bei welchem ich zugleich an mir arbeite. Und mir geht es um ein Arbeiten, dass die Qualität des Spiels in sich trägt, das – bei allen Sachzwängen – spielerisch schwingt. Nur eines möchte ich nicht: Dass sich die Männer schweigend in die Heimwerkerkeller (oder hinter den PC) zurückziehen und die Frauen (auch in meinen Seminaren) alleine spielen und an sich arbeiten lassen.